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Donnerstag, 18.04.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

Der Fall Grass

Marcel Reich-Ranicki hat Günter Grass´ „Absicht, den Judenstaat zu attackieren“, als „Gemeinheit“ und als „Unsinn“ bezeichnet. Das von der Süddeutschen Zeitung veröffentlichte Gedicht „Was gesagt werden muss“ sei literarisch wie politisch wertlos.

Damit wäre im Prinzip alles gesagt, hätte die israelische Regierung Günter Grass nicht zur persona non grata erklärt. Aufgrund des verhängten Einreiseverbots gerät nun Israel selbst unter Druck. Die Zeitung „Haaretz“ nannte die Maßnahme hysterisch, deutsche Politiker gehen vorsichtig auf Distanz und nennen den Schritt überzogen.

„Ich sehe es als Ehre an, ihm die Einreise ins Heilige Land zu verbieten“, so der israelische Innenminister Eli Jischai am Sonntag. Aus seiner Sicht hat der Literaturnobelpreisträger mit seinem israelkritischen Gedicht eindeutig eine unsichtbare Grenze überschritten. Eli Jischai von der strengreligiösen Schas-Partei will in der Debatte um Grass einen Pflock setzen und keine Zwischentöne zulassen. Mit Abscheu sprach Jischai von Grass als einem „antisemitischen Menschen“ und „einem Mann, der eine SS-Uniform getragen hat“.

Roozbeh Karimi

Roozbeh Karimi


Was das mit der DAZ und ihrem Redaktionskonzept zu tun hat? Nichts! – Wenn sich nicht ein Leser mit einem langen wie differenzierten Text mit der Bitte um Veröffentlichung an die DAZ gewandt hätte. Roozbeh Karimi (40) stammt aus „Persien“, wie er sagt, und lebt seit 1984 in Augsburg. „Wir mussten fliehen, da wir aufgrund des Wirkens meines Vaters als Dichter und Schriftsteller nicht mehr im Land bleiben konnten“. Dergestalt geprägt ist der in Augsburg lebende und als Ingenieur arbeitende Karimi mit der Absicht, die „fortschrittlichen Kräfte in Israel zu unterstützen“, an die DAZ herangetreten. Karimi sucht einen Ausweg aus der festgefahrenen Täter-Opfer-Relation, die nach Karimis Auffassung eine Diskurs-Kultur gar nicht erst aufkommen lässt. Nicht angeforderte Texte fielen bisher ausnahmslos durch das Qualitätsraster der DAZ – dieser nicht.

Wer allein Schuld mit sich trägt, kann nicht helfen

Von Roozbeh Karimi

Was bedeuten eigentlich die Reaktionen auf Grass’ Gedicht? Was sagen sie uns über uns selbst? Entrüstung und das auf beiden Seiten. Das ist das Resultat eines kritischen Gedichtes, das nicht nur die Bedeutung des Stilmittels in einer digitalisierten Medienwirklichkeit aufzeigt, sondern vor allem das Objekt der Kritik. Die Debatte ist sowohl sachlich als auch (leider) persönlich und verletzend. Man könnte meinen, es ginge um Sein oder Nichtsein. Intellektuelle und Politiker scheinen, stille Rufe eines Kreuzzuges wahrgenommen zu haben. Sie analysieren den Text, die Biografie des Dichters und gar seine Psyche. – Manchem wird es jetzt schon bedauern, dass er aus welchen Gründen auch immer so unbedacht aus dem Bauch reagiert hat.

„Ich will keine weitere Text-Analyse liefern“

Ich will gar nicht eine weitere Text-Analyse liefern. Interessierte brauchen derzeit nur die Zeitung aufzuschlagen oder auch Grass in die Suchmaschinen einzugeben; dann kommen mehr oder weniger brauchbare kritische Texte und Analysen. Es gibt allerdings einen Unterschied zu anderen oder auch früheren Diskussionen und eine Veränderung in der Art der Führung der Diskussion. Ich möchte (hinter)fragen, warum eine solche Debatte zu diesem „prekären“ Thema ausgelöst wurde. Zunächst werden die meisten den Grund, weshalb das Thema „prekär“ ist, als banal abgetan haben. Es sei wohl klar, dass aufgrund des Holocausts an dem jüdischen Volk im Dritten Reich Deutsche immer eine besondere Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk haben werden, würde man sagen und damit auch vollkommen recht haben. Dies ist so und muss auch so bleiben. Es geht nicht nur um Schuld, sondern eine generationenübergreifende Verantwortung der Deutschen. Und genau hier liegt der Hund begraben. Diese Verantwortung sowie die Schuld sind notwendigerweise Thema unzähliger Abhandlungen und Dokumentationen, aber der Umgang mit dieser Verantwortung wurde in Deutschland an sich nicht in letzter Konsequenz diskutiert. Dieses Thema ist vielmehr tabuisiert.

„Was also ist es?“

Wer etwas anderes behauptet, dürfte wohl mit Gemüse im Gesichtsfeld zu kämpfen haben. Liegt es allein an einer geringen und absolut unverbesserlichen Minderheit, die so genau dokumentierten Schrecken des Dritten Reiches noch immer leugnet? Nein, solche Menschen gibt es überall und wird es auch in Zukunft geben. Die gesamte intellektuelle „Elite“ des Landes, wer auch immer in so einem Kreis beherbergt sein mag, hätte nicht immer wieder so reagiert. Was also ist es? Erlauben Sie mir diesbezüglich eine Analogie zu nutzen, ohne vergleichen oder etwas relativieren zu wollen. Mir geht es um den Umgang mit Verantwortung an sich. Wir alle sind jeweils Sohn oder auch Tochter und kennen zumindest das Rollenverhältnis Eltern-Kind. In unserer heutigen Gesellschaft gibt es ein multiples Eltern-Kind-Verhältnis. Die einen basieren auf Kooperation, andere auf autoritative Kommunikation und immer noch finden sich auch autoritäre Strukturen. Von den planlosen Beziehungen, wo gar keine Struktur vorliegt, sondern alles auf Konsum und verstreichen der Zeit beruht, will ich gar nicht reden. War das Verhältnis schon immer so vielfältig? Nein, das autoritäre Verhältnis zwischen Eltern-Kind oder auch Mann-Frau änderte sich im Laufe der bewegten 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Diese Veränderungen waren revolutionär, aber keine Revolution, da sie den König nicht köpfen wollten. Sie basierten auf die Liebe zwischen Eltern und Kind oder Mann und Frau und hatten grundsätzlich gesehen, die Bereinigung und Gleichstellung des jeweiligen Verhältnisses zum Ziel. Das dies zu einer mehr als intensiven Diskussion führen musste, war klar. Nicht wenige Eltern sahen darin nicht nur eine unverschämte Respektlosigkeit, sondern auch Mangel an Liebe der jungen Generation. Zumindest wurde innerhalb der älteren Generation diese Unterstellung sehr vehement und breit diskutiert und der Jugend vorgeworfen. Namhafte intellektuelle, Autoren und Politiker waren davon überzeugt. Da dieser Kampf schon längst vorbei zu sein scheint, zumindest in der Form und Ursache, spricht niemand mehr ernsthaft von den Gegnern dieser Revolte. Die meisten dieser Menschen haben sich sowieso damit abgefunden, wurden verbittert oder änderten aus welchen Gründen auch immer ihre Meinung. All das bezeichnen wir als eine emanzipatorische Bewegung oder auch Veränderung.

„Die Deutschen wollen auch Verantwortung übernehmen“

Ich stelle die These auf, dass wir nun eine ähnliche Bewegung erleben. Zumindest die Ansätze einer solchen Bewegung. Die Symptome sprechen dafür. Tragen wir doch kurz die Fakten zusammen: Von der bereits genannten kleinen Minderheit, der geistig Gestrigen, die die Verbrechen des Dritten Reiches leugnen, abgesehen, fühlen sich die meisten Deutschen gegenüber dem jüdischen Volk schuldig und sie wollen auch Verantwortung übernehmen. Dieses Gefühl ist aber undefinierbar, wie bei Emotionen typisch individuell unterschiedlich und schwer zu fassen, weshalb es immer wieder zu Gegenreaktionen führt. Es bedeutet aber keinesfalls, dass es an der Sympathie/Liebe fehlt. Kinder, deren Eltern ihnen immer wieder mit der Schuld- oder Verantwortungskeule kommen, kennen das sehr genau. Das bringt sie auf die Palme, weil sie einerseits wissen, dass die Eltern natürlich recht haben, aber dennoch, situativ gesehen, die Eltern unfairerweise die Argumente anbringen, um sie zum Schweigen zu bringen. Interessanterweise ist dies den meisten einigermaßen geistig wachen und intelligenten Eltern auch bewusst. Sie machen es, weil es immer wieder funktioniert, sie ihr Ziel mit minimalem Aufwand erreichen und ihr gegenüber Ruhe gibt.

Es fehlt nicht an Sympathie oder Liebe für das jüdische Volk

Auch im Falle des Verhältnisses der Deutschen zum jüdischen Volk fehlt es nicht an Sympathie oder Liebe für das jüdische Volk. Bloß ist es kaum noch vermittelbar, wenn man ein solches Gedicht als antisemitisch bezeichnet, einen großen Dichter und Nobelpreisträger, der seit seinem Erwachsensein für die Freiheit, Emanzipation und u.a. Frieden gekämpft hat, beschimpft und verunglimpfen versucht und gar behandelt, als sei er ein Nazi. Die ungewöhnlichen Begründungen in den Medien erscheinen auch nicht immer schlüssig, wenn man sie ernsthaft hinterfragt. Denn hier nutzt ein Dichter sein Recht und vermittelt uns mit seinen Mitteln etwas. Es ist keine wissenschaftliche Arbeit, die nun von einem anderen Wissenschaftler analysiert wird. Sie ist aber auch nicht volksverhetzend oder auf andere Art und Weise kriminalistisch zu deuten, sofern man ihm nicht einfach nur etwas unterstellen will. In diesem letzten Falle bräuchte man gar nichts mehr dazuzusagen, da kein Argument stand halten könnte. Herr Grass kritisiert die Politik der israelischen Regierung, deren Anhänger wohlwissend welche Schuld der Deutsche mit sich trägt, diese Schuld instrumentalisieren, um die Kritik abzuwenden. Eine Kritik, die im Übrigen seit Jahren schon in Israel thematisiert wird. Nicht alle Israelis denken nämlich wie die derzeitige Regierung. So versucht die die rechtskonservative Regierung in Israel auch im Inland für Ruhe zu sorgen.

Warum schaffen wir es aber nicht, zwischen der israelischen Regierung, die aus Menschen besteht, die nicht über Fehler und Kritik erhaben sind und dem jüdischen Volk bzw. Kultur und Vergangenheit zu differenzieren? Vielleicht weil es uns bislang an einer emanzipatorischen Auseinandersetzung mit unserer Verantwortung und Schuld gegenüber dem jüdischen Volk fehlt? Reicht es vielleicht doch nicht, nur Dokumentationen über das Thema zu sehen und alles aus einer geschichtlichen Sicht der Opfer oder Täter zu betrachten? Wer allein Schuld mit sich trägt, kann nicht helfen.

Es würde allen Beteiligten gut tun, wenn man aufhören würde, pauschal alles Israelische zu verteidigen. Es wäre an der Zeit, im Bewusstsein der eigenen Verantwortung und Schuld konsequent zu denken, zu reden und zu handeln.