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Mittwoch, 17.04.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

“Der Sinn dieser Gesellschaft ist die Gier”

Am Freitag im Parktheater: der Schriftsteller Wladimir Kaminer

Der 1967 in Russland geborene Wladimir Kaminer kam 1989 nach Deutschland und lebt seither in Berlin. Kaminer machte schnell mit flott geschriebenen Kolumnen auf sich aufmerksam, die zunächst im Stadtmagazin “Zitty” und später unter dem Titel “Russendisco” als Buch erschienen. Er schreibt Kolumnen für eine Vielzahl von Zeitungen und Zeitschriften, ist in Rundfunk und Fernsehen präsent und wird viel gelobt für seinen genauen, vorurteilsfreien Blick auf die Realitäten sowohl in seinem Herkunftsland als auch in seiner neuen Heimat. Seine kurzen Geschichten, oft pointiert, aber nie klischeehaft, sind mittlerweile in zahlreichen weiteren Büchern auf dem Markt – zuletzt erschienen “Es gab keinen Sex in Sozialismus” (Goldmann, 8,95 €) und “Salve Papa!” (Manhattan, 17,95 €). Am Freitag, 20. März um 19.30 Uhr liest Wladimir Kaminer im Parktheater aus seinen Büchern – Restkarten sind an der Abendkasse erhältlich. Vorab gab Kaminer der DAZ ein telefonisches Interview, das Gespräch führte Frank Heindl.

DAZ: Von dem Musiker Tom Waits ist zu lesen, dass er verschiedenen Interviewern auf dieselben Fragen mit treuherzigem Blick völlig unterschiedliche Stories erzählt. Kriege ich von Ihnen ehrliche Antworten?

Kaminer: Wenn mir zwei Leute dieselbe Frage stellen, kriegen sie dieselbe Antwort. Ich bin noch nicht so weit wie Tom Waits (zögert) – aber das kommt vielleicht noch.

DAZ: In “Es gab keinen Sex im Sozialismus” schreiben Sie: “Jemand, der im Sozialismus Auto fahren konnte, wäre auch in der Lage gewesen ein Flugzeug oder ein U-Boot zu lenken.” War der Sozialismus mit seinem komplizierten Alltag eine bessere Lebensvorbereitung als der westliche Kapitalismus?

Kaminer: So, wie ich den Sozialismus erlebt habe, hatte man zumindest mehr Möglichkeiten, Widerstandskraft zu entwickeln. Je mehr einer verplant wird, desto mehr Widerstand entwickelt er. Das beste Beispiel ist für mich, dass die Russen so gerne singen – auch heute noch. Die Lieder der Russen funktionieren als Erkennungsmerkmal – man hat eine gemeinsame Vergangenheit. Gesang ist ein Zeichen des Widerstands, Musik richtet sich gegen Unterdrückung. Nehmen sie die Schweizer, oder die Ostfriesen – die haben sich relativ unbeschadet durch die Geschichte manövriert, und die singen kaum.

DAZ: Demnach wäre Gesang gar kein Zeichen von Fröhlichkeit?

Kaminer: Nein, überhaupt nicht. Singen ist nie ein Zeichen von Fröhlichkeit. Lieder entstehen aus Trotz: Trotz der widrigen Bedingungen singt man, nicht weil es einem gut geht. Im russischen Sozialismus hat sich der Staat viel

“Singen ist nie ein Zeichen von Fröhlichkeit”

weniger um die Bürger gekümmert als hier in Deutschland. Man war im Großen und Ganzen sich selbst überlassen, wenn man nicht gerade Steine an die Kremlmauer geworfen hat. In gewisser Weise gab es dort mehr Freiheit. Heute habe ich gelesen, dass die deutschen Rentner jetzt mehr Geld bekommen, damit sie den Konsum ankurbeln können. Das ist doch unglaublich! Ich bezweifle sehr, dass der Sinn der kapitalistischen Gesellschaft ist, dass es den Rentnern gut geht. Der Sinn dieser Gesellschaft ist die Gier, ist das Wachstum um jeden Preis, und die Rentner sind halt ein Posten in der Rechnung. So wie dieses System die Gier unterstützt, so hat der Sozialismus die Faulheit gefördert – aber auch die Eigeninitiative.

DAZ: Sie sind bekannt für solche undogmatischen Ansichten – dafür, dass Sie die Dinge sozusagen von der anderen Seite her betrachten. Wie passt das damit zusammen, dass die für eine linke Zeitschrift wie “konkret” schreiben, der oft Dogmatismus vorgeworfen wird?

Kaminer: “Konkret” war für mich die Entdeckung des Jahres 2006. Ich war sehr müde von der deutschen Presse. Wissen Sie, ich war mittlerweile für fast jede deutsche Zeitung als Autor tätig – und man findet so wenig

“Der ganze ‘Spiegel’ wird von einem Menschen geschrieben”

Auseinandersetzung. Alle finden denselben Film gut, alle loben denselben Schriftsteller. Der ganze “Spiegel” – der wird doch von einem Menschen geschrieben! Diesen Menschen sieht man beim Lesen regelrecht vor sich, mal männlich, mal weiblich, aber immer derselbe. “Konkret” ist eine Ausnahme in dieser gleichgeschalteten Pressewelt: die sind frech und unvoreingenommen, über manches rege ich mich auf, vieles begeistert mich. Und “Konkret” ist nur in einer Sache wirklich dogmatisch: in der bedingungslosen Parteinahme für Israel und dessen Politik.

DAZ: In “Konkret” haben sie auf die Frage nach den Ursachen der Wirtschaftskrise nicht sehr konkret, sondern mit einer kleinen Geschichte aus Russland geantwortet. Ist das die Kaminersche Art, die Welt zu verstehen: sie sich aus dem zu erklären, was man selbst erlebt hat?

Kaminer: Das System hier muss schon entlarvt werden, das ist gut und richtig, aber das machen ja andere schon. In Russland ist das anders: Dort muss niemand das System entlarven, weil sowieso niemand dem System glaubt. Das hat geschichtliche Ursachen, das war schon immer so. Deshalb: Ja, ich habe diesen Blickwinkel, ich muss nicht entlarven, was schon entlarvt ist. Ich halte es außerdem für falsch, zu denken, man kann jetzt Rezepte gegen die Krise geben. Wenn schon, dann wäre mein Rezept, die Ideologie aus dem politischen Leben auszuschließen. Ideologie hat was Theatralisches, sie gehört in die Welt des Kalten Krieges. Meine politische Vision ist die Wirtschaftlichkeit: Die Nationen sollten nicht wie Parteien funktionieren, sondern wie Dienstleistungsunternehmen. Hier ein Angebot mit wenig Sicherheit, viel Freiheit, kostet 35,99 € im Monat. Da ein anderes Angebot: wenig Freiheit, dafür super viel Sicherheit zum Preis von 150 € im Monat – und ich kann mir’s aussuchen.

DAZ: Nützt Ihnen die Finanzkrise als Autor? Können Sie Kapital aus ihr schlagen?






Kaminer: Ja, ich schlage Kapital daraus! Ich hatte ein Treffen mit meinem Sparkassenberater. Nicht so im Büro mit Kaffee, sondern abends in der

“Augsburg – eine skurrile Gegend mit skurrilen Leuten”

Kneipe, mit Bier. Der ist eigentlich kein Berater, der ist ein Abrater. Er rät mir von allen Finanzprodukten ab. Ich habe eine schöne Geschichte daraus gemacht, die lese ich in Augsburg vor!

DAZ: Kommen Sie gerne nach Augsburg? – Das ist immerhin die Stadt, deren Bischof Mixa kürzlich Holocaust und Abtreibung, sagen wir’s mal vorsichtig, in einen gewissen Zusammenhang gebracht hat…

Kaminer: Das ist eine skurrile Gegend mit skurrilen Leuten, aber das macht sie nicht weniger interessant. Ich bin gerne in Augsburg, ich habe die Stadt vor einem Jahr bei meiner letzten Lesung für mich entdeckt und ich bin wieder gespannt und freue mich darauf.

Wladimir Kaminer im Internet: www.russendisko.de

Veranstaltungen im Kurhaus unter www.parktheater.de