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Sonntag, 24.03.2024 - Jahrgang 16 - www.daz-augsburg.de

„Manche sind in Tränen ausgebrochen“

Am Samstag hat „web und walk“ Premiere – im Theaterstück über die Augsburger Textilindustrie laufen viele Fäden zusammen.

Von Frank Heindl

Für Juliane Votteler, die Intendantin des Augsburger Stadttheaters, beginnt diese Geschichte in Sao Paolo, Brasilien, im Jahr 2005. Eine Theatergruppe spielt auf dem Gelände einer aufgelassenen Fabrik die Geschichte eben dieser Fabrik nach. In den 20er Jahren waren hier cholerakranke Arbeiter eingepfercht, isoliert und ihrem Schicksal überlassen worden. Mit „typisch südamerikanischer Inbrunst“ erzählten die Akteure eine der grausamen Geschichten, von denen der lateinamerikanische Kontinent so übervoll ist. „So was möchte ich auch mal machen“, denkt Votteler spontan.

Für Harry Fuhrmann, den Regisseur von „web und walk – die Weber von Augsburg“ beginnt die Geschichte irgendwie im selben Jahr – in Indien und Nepal. Mit der „Theatercompagnie fliegende fische“ reist er durch Asien und entwickelt seine Idee weiter, nicht darauf zu warten, dass die Menschen ins Theater gehen – sondern mit dem Theater zu ihnen nach Hause zu kommen. Anschließend probiert er das auch gleich in Deutschland aus: den Menschen ihre eigenen Geschichten vorspielen.

Christian Dierig entstammt einem anderen Milieu. Der Vorstandssprecher der Dierig Holding, Spross einer alten Unternehmerfamilie, der letzte Industrielle, der Augsburgs Tradition als Textilstadt aufrechterhält, fühlt sich in der Pflicht als einer, der den Niedergang miterlebt hat und seine Arbeiter nach Hause schicken musste. Auf der Suche nach der Zukunft seiner eigenen Geschichte trifft er auf Fuhrmann und Votteler und ist plötzlich gefordert – als Unternehmer, als Beteiligter an einer Geschichte, an der auch er noch immer leidet, und als einer, dem die Mutter mit auf den Weg gegeben hat, man müsse „Spuren hinterlassen im Leben“ und sich dabei wenn schon nicht die Größe, so doch die Intention der Medici zum Vorbild nimmt.

11.000 ehemalige „Textiler“ leben noch in Augsburg

Und noch einmal ganz anders sieht die Geschichte für jene Textilarbeiter aus, die seit Mitte der 80er in Augsburg ihre Arbeitsplätze, ihre Kollegen und oft auch ihr Auskommen verloren haben. Ihre Geschichte ist vielleicht die älteste, denn ihre Anfänge reichen bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück, als Augsburgs Kattun-Manufakturen begannen, sich und ihren Produkten den Weltmarkt zu erobern. Hundert Jahre später wurde in der Fuggerstadt an 19 Fabrikationsstätten gewebt, gebleicht, gesponnen. Die Wolle versprach Gewinn, Einkommen, Zukunft – sie machte Unternehmer reich, Kaufleute wohlhabend, Handwerker zu Bürgern. Und noch einmal gut hundert Jahre später war alles vorbei. 11.000 Menschen sollen noch in Augsburg leben, die noch bis vor 25, 30 Jahren in der Textilindustrie arbeiteten – Überlebende eines vergangenen Zeitalters.

Als Juliane Votteler nach Augsburg kam, liefen plötzlich die vielen Fänden so vieler Geschichte erstmals zusammen. Hier war der Ort, um ihre brasilianische Idee zu realisieren. Schließlich stammt sie aus einer alten Färberfamilie – ihre Mutter, erzählt sie, habe ihr noch „von den Dierig-Lastwagen erzählt, die durchs Werkstor fuhren.“

Das zu hören, dürfte Christian Dierig gefreut haben. Der sitzt im Besprechungszimmer seiner Firma, räsoniert darüber, wie stark das Interesse der ehemaligen Textilarbeiter an „ihrer“ Fabrik schon beim „Tag des offenen Denkmals“ war – „der Andrang war unglaublich!“ – und kann’s vor Vorfreude und Neugier kaum erwarten. Dierig macht immer noch ein bisschen in Textilien, aber produziert wird auch in seinen Werkshallen längst nicht mehr. „Wir nähen hier noch ein bisschen was zusammen, damit hat sich’s.“ Oder auch nicht, denn heute verdient Dierig auch mit Immobilien Geld, und das wiederum brachte ihn mit den Theaterleuten zusammen – schließlich verhandelt er schon länger mit der Stadt über einen Ersatzspielort für die marode Komödie. Kurz gesagt: Als sich herausstellte, dass das Textilmuseum bis zur Premiere des Stückes über die Augsburger Weber nicht bezugsfertig sein würde, stellte Dierig eine Halle zur Verfügung – mietfrei. Und als die Pläne weiter gediehen und die Halle nicht mehr ausreichte, wurde das ganze Dieriggelände in Augsburg-Pfersee zum Spielort. Jetzt freut sich Dierig auf die Premiere und kann’s, wie gesagt, kaum erwarten.

Bei der Recherche brachen Dämme

Einen Regisseur für ihre Pläne hatte Juliane Votteler schnell gefunden. Harry Fuhrmann kannte sie aus Berlin, wo er an der Ernst-Busch-Schauspielschule studiert hatte, und sie hatte aufmerksam verfolgt, was der Kollege im Anschluss so auf die Beine stellte. Noch in Berlin gründet er die „fliegenden fische“ – ein Theatergruppe, deren erstes großes Projekt nach Indien führte. „Tischtheater“ nennt die Gruppe ihre Technik: Man spricht mit den Menschen, hört sich ihre Geschichten an, entwickelt daraus kurze Dialoge und Szenen – und spielt sie zuhause bei den Leuten gleich vor – direkt an ihrem Tisch eben.

Dasselbe haben Fuhrmann und seine Dramaturgin Christiane Wiegand nun auch in Augsburg getan. Schon vor einem Jahr begannen die Vorarbeiten: vor allem Interviews mit Zeitzeugen, ehemaligen Beschäftigten, Vorständen, Gewerkschaftern der Augsburger Textilindustrie, aber auch Recherchen im Haus der bayerischen Geschichte, bei Ausländervereinen, in der „Kammgarnmoschee“ und an vielen anderen Orten. Die Erlebnisse waren frappierend: „Die Menschen hatten vielfach ihre eigene Geschichte verdrängt, wollten eigentlich gar nicht mehr an die Vergangenheit erinnert werden“, merkten die Schauspieler schnell. Aber dann „sind die Dämme gebrochen.“ Die Angesprochenen begannen nicht nur in alten Kisten zu wühlen, sondern auch in Gefühlen und Erinnerungen. Und merkten oft jetzt erst, nach Jahrzehnten, wie traurig, wie furchtbar, wie elend das war, damals, irgendwann in den 70ern oder 80ern, als „ihre“ Firma dicht machte, als alle Proteste und Aktionen im Sand verlaufen waren, als es plötzlich und unwiderruflich hieß: „So, das war’s dann.“ Es sei vorgekommen, berichtet Fuhrmann, „dass die Leute beim Tischtheater in Tränen ausgebrochen sind, weil sie sich und ihre Situation wieder erkannt haben.“

Werden nun Antworten gegeben, wird jetzt alles klar? „Das soll kein nostalgischer Abend werden“, sagt Fuhrmann, „aber wir wollen und können nicht belehren. Lieber Fragen aufwerfen, Vorgänge ins Bewusstsein rufen. „Das Ganze ist ziemlich kompliziert. Wer ist Schuld? Die Bundesregierung? Die Arbeitgeber? Die Industriellen, die ihre Maschinen nach Asien verkauft haben? Die Gewerkschaften? – wir wissen das auch nicht.“

„Ich bin gewarnt worden“

Und hat Christian Dierig nie Angst gehabt, dass ihm ein paar Theaterleute nun die Hölle heiß machen auf seinem eigenen Gelände? Dass da ein paar linke Agitproper Propaganda gegen Kapitalismus, Marktwirtschaft und freies Unternehmertum machen? Er sei „keiner, der den Menschen mit Misstrauen begegnet“, entgegnet er fröhlich – er wolle „nicht das Schlechte denken.“ Andererseits: „Ich bin schon gewarnt worden!“ Wie er so etwas machen könne, wurde er gefragt, noch dazu, wo der Regisseur aus dem Osten komme. Aber das Risiko habe sich gelohnt: „Wir waren platt von der unglaublichen Arbeit, die die Truppe da reingesteckt hat.“ Er habe erste Szenen gelesen und sei begeistert. Natürlich schmerze es, „wenn in dem Stück die Textilindustrie zu Grabe getragen wird.“ Aber vor der Realität die Augen zu verschließen, das schaffe er nicht, „auch wenn der Idealismus und die Emotion und das ‚Nicht aufgeben‘ für uns als Familienunternehmen immer wichtig gewesen sind.“ Im Übrigen sei Fuhrmanns Stück zum einen „kein Stück über Dierig“, zum andern gebe es darin wohl Parolen gegen Unternehmer, „aber es gibt auch Unternehmer, die das verdient haben!“ Zusammenfassend: freudige Erwartung. (Eine Woche später, in einem kurzen Telefongespräch, wird diese optimistische Erwartungshaltung in reine Freude umgeschlagen sein: „Ich hab am Wochenende das ganze Stück gelesen, und ich sage Ihnen: Die haben den Leuten aufs Maul geschaut! Ich find’s großartig!“).

Ein Theaterstück – ein Denkmal

Am Samstag ist Premiere. Vernünftige Schuhe solle man anziehen, sagen die Theaterleute. Und die Hallen seien zwar beheizt, es könne aber kein Schaden sein, die Jacke anzubehalten. Dann können die Fäden endlich zusammenlaufen. Alle Beteiligten sind eingeladen, alle Interviewten werden erleben, zu welchem Geschichtenteppich das Fuhrmann-Team ihre Erlebnisse verwoben hat. Ein „Stationentheater“ erwartet die Besucher – sie werden während der Vorstellung verschiedene Handlungsorte kennen lernen, werden von Raum zu Raum, von Halle zu Halle geleitet werden, werden miterleben, wie „Textiler“-Schicksale zerbrechen, wie eine lange Geschichte in einem großen Scherbenhaufen zu Ende geht. Und vielleicht auch noch, wie eine Vision von Christien Dierig sich doch noch verwirklichen könnte: „Ich finde, dass Augsburg und die Tausende von Augsburger Textilarbeitern ein Denkmal in Form eines Theaterstücks verdient haben!“